Wir sprechen in der Szene viel über die Sicherheit. Das am häufigsten diskutierte Thema scheinen immer noch Nervenschäden zu sein. Neulich wurde auch die Frage der Prüfung von Suspensionspunkten angesprochen. Was noch fehlt, ist ein strukturierter Ansatz zur Bewertung von unsicherem Verhalten. Sicherlich tratschen wir darüber, dass bestimmte Stile oder sogar bestimmte Personen „unsicher“ sind – aber was ist die Bedeutung? Unsicher – verglichen mit was?
Ich bin promovierter Chemiker und habe mich in meiner beruflichen Laufbahn hauptsächlich mit der Reaktion von brennbaren Flüssigkeiten und explosiven Gasen unter höherem Druck beschäftigt. Ich habe sowohl mit diesen Reaktionen experimentiert als auch kommerzielle Apparate für diese entwickelt. Stellt Euch einen Schnellkochtopf oder Reiskocher vor – nicht mit Reis und Wasser gefüllt, sondern mit Benzin.
In der chemischen Industrie beschäftigen wir uns permanent mit inhärent unsicheren Situationen – wie beim Bondage. Der beste Weg, Unfälle und Umweltverschmutzung zu vermeiden, wäre, überhaupt keine Chemie zu betreiben. Ebenso wäre es der sicherste Weg, Vorfälle im Seil zu vermeiden, einfach nur zu kuscheln. Trotzdem scheinen wir als Gesellschaft Chemie zu brauchen, während einige Menschen entscheiden, dass sie Seilbondage brauchen. In diesem Artikel beziehe ich mich hauptsächlich auf Suspensionen, aber viele Aspekte gelten auch für risikobewusstes Fesseln am Boden, z.B. mit Halsseilen oder Predicaments.
Sobald wir uns bewusst entschieden haben, das Risiko einer von Natur aus unsicheren Situation einzugehen, tun wir natürlich alles was wir können, um sie so sicher wie möglich zu machen. Konzeptionell sind zwei Aspekte zu berücksichtigen:
- Technische Maßnahmen
- Menschliches Verhalten
Die technischen Aspekte müssen zuerst geklärt werden. Egal wie gut Euer Seilhandling ist, wenn der Aufhängepunkt nicht richtig fixiert ist oder Ihr alte, abgenutzte Seile verwendet, ist das Leben oder die Gesundheit der Person in Seilen gefährdet! Technisch gesehen gibt es eine Sicherheitskette. Der schwächste Teil definiert das Gesamtrisiko. Ich glaube, dass die meisten Leute in der Szene sich dieser Tatsache bewusst sind, also werde ich das nicht in vollem Umfang behandeln. Aber ich glaube auch, dass es mir nicht schadet, die Elemente nhier kurz anzureissen:
- Befestigung des Aufhängepunktes (Deckenstruktur, dynamische Belastung der Haken, …)
- Verbindungen (Seile, Ketten, Karabiner, Materialien vom Klettern,….)
- Ring oder Bambus
- Seile für die Aufhängung
Für jeden dieser einzelnen Punkte gibt es Literatur. Einige der Aussagen widersprechen sich gegenseitig. Ich denke, es ist wichtig, sich zu informieren um gute – sichere – Entscheidungen zu treffen.
Der zweite Aspekt ist genauso entscheidend wie der erste. Selbst unter den besten technischen Voraussetzungen ist die Szene so sicher, wie sich die daran beteiligten Menschen verhalten.
Um auf meine berufliche Prägung zurückzukommen: In der chemischen Industrie passieren heute die meisten Vorfälle, weil sich Menschen unsicher verhalten, nicht weil die Technik versagt. Das bedeutet nicht, dass jemand aktiv gegen Sicherheitsvorschriften verstößt oder absichtlich riskante Dinge tut (wie der verrückte Professor in Filmen, den Ihr vor Augen hat, seit ich erwähnt habe, dass ich Chemiker bin…).
Es ist vielmehr nur das Verhalten, das wir im Alltag entwickeln: kleine Abkürzungen, bequemere Arbeitsabläufe, Fehler oder Unvollkommenheiten. Für alle haben wir einen guten Grund: Stress, Eile, Multitasking und Routine (es hat 100 Mal funktioniert). Jeden Tag passieren unsichere Situationen.
In der chemischen Industrie gibt es Studien, die zu dem Schluss kommen, dass es für jeden schweren (oder sogar tödlichen) Unfall 10 Vorfälle mit Verletzungen gibt und 100 glimpflich abgelaufene Vorfälle, also solche, ohne eine Person zu schädigen. Darunter, versteckt, gibt es aber 1000 unsichere Situationen.
Ich denke, das ist übertragbar auf die Bondage-Welt. Es sind nur wenige schwerwiegende Vorfälle bekannt. Viel zu oft geben wir dem Einzelnen und seiner unsicheren Technik die Schuld. Aber es gibt die gleiche Pyramide von Ereignissen. Auf einen schweren Vorfall, über den in FetLife gesprochen wird, kommen 10, bei denen das Model mit leichten Prellungen davon gekommen ist. Und dann gab es 100 Situationen, in denen am Ende alles gut gelaufen ist: ein gerutschtes Seil, das in letzter Sekunde abgefangen werden konnte, oder ein eingeklemmtes, der nur mit Hilfe des Nachbarn von der Jam gelöst werden konnte. Und da ist der Moment, in dem Du merkst, dass Du die Knoten des falschen Tsuri-Seils öffnen willst, des Seils, das den Oberkörper hält, nicht den Knöchel…..
Darüber hinaus gibt es diese 1000 „unsicheren“ Situationen: Schlamperei bei der Fixierung der Seile, Chaos im Suspensionsseil, klemmende Seile, Fehlberechnungen der Körperdynamik während einer Transition – und vieles mehr. Kommt Euch das bekannt vor?
Der Ansatz in der chemischen Industrie besteht darin, die unsicheren Situationen anzugehen. Dies macht die Basis der Pyramide kleiner, wodurch die Wahrscheinlichkeit dieses einen schweren Vorfalls verringert wird. Ich schlage das gleiche Konzept meinen Schülern vor, wenn sie anfangen Suspensions zu lernen.
Sicherheit muss zu einer Gewohnheit, einem Wert, einer Haltung werden.
Es geht darum, was wir jeden Tag tun und wie wir es tun. Es geht nicht darum, eine Technik nur zu kennen, z.B. eine Routine, sicher abzufesseln. Es geht darum, die sicheren Routinen in den Körper zu schreiben. Wie kann man ein Modell sicher runter bringen, wenn es das Bewusstsein verloren hat? Wie kann man ruhig bleiben, wenn es in Panik ist oder laut schreit? Wie geht man mit dieser Situation um, wenn man müde ist oder übermäßig (sexuell) erregt?
Wie bereits erwähnt: In der chemischen Industrie kennt heute jeder das Thema Sicherheit. Es geht darum, was wir täglich während unserer Arbeit tun. Und das betrifft nicht nur die Anfänger. Selbst erfahrene und gut ausgebildete Teams oder Einzelpersonen können bei unsicherem Verhalten (und schlechter Technik) ein hohes Risiko darstellen.
Für viele Aspekte ist es hilfreich, Verfahren oder Routinen zu entwickeln: die Überprüfung des Hauptseiles kurz vor jeder Transition, eine Routine zur Überprüfung der Abschlüsse, die Gewohnheit Restseil immer sauber zu verbauen, egal was passiert. Technisch gesehen ist es keine Raketenwissenschaft. Es geht um das sichere Verbinden der Hängeseile und um einen sicheren Abschluss, sowie um eine gute Strategie für Notfälle. Aber es braucht Praxis und Erfahrung, um dies in die „Körperintelligenz“ zu bringen.
Das ist ein Dilemma, denn um Erfahrung im Umgang mit Suspensionen zu sammeln, braucht man Übung. Aber wie kann man sicher üben, wenn man (noch) keine Erfahrung hat?
Hier müssen wir die „Analogie“ der chemischen Industrie verlassen. Dort gibt es stark formalisierte Verfahren, Schulungen, Audits, 4-Augen-Prinzipien usw. Suspensionen in Bondage sind oft ein sehr individuelles Unterfangen.
Hier ist also mein Ratschlag für mutige Anfänger in Suspensionen:
- Lernt die Techniken. Besucht Workshops, fragt erfahrene Rigger. Schaut genau hin, macht Notizen (oder ein Video). Stellt Fragen. Versteht, warum die Lehrer eine spezifische Technik oder Routine vorschlagen
- Vereinfacht. Standardisiert. In der ganzen Vielfalt der verschiedenen Stile gibt es nur wenige Prinzipien, die man für Suspensionen kennen muss: Hängeseile am Körper befestigen und abschließen: je eine Technik für Ring / Karabinerhaken und Bambus, Friktionen, Körperdynamik, etc.
- Lernt / übt eine Technik nach der anderen. Lasst Euch anfangs nicht mit zu vielen Varianten verwirren.
- Beginnt langsam und niedrig. Fangt mit Semi-suspensionen an und geht dann zu einfachen Suspensionen über.
- Haltet Eure Hängeseile einfach und sauber. Vermeidet (ästhetisches) Chaos in den Tsuri-Linies, nur weil sie dann besser aussehen.
- Sucht Euch für den Anfang Unterstützung: eine angeleitete Trainingseinheit, ein Peer-Rope, eine Jam – einfach jede Situation, in der Ihr um Hilfe bitten könnt. Und dann: Verzichte auf Dein Ego und bitte bei Bedarf auch um Hilfe.
- Bleib auf Deinem Niveau. Fortgeschrittene Rigger oder Profis haben oft ein anderes Risikoprofil UND ein hohes Maß an Übung. Was für sie „save“ ist, ist es nicht unbedingt für Anfänger.
- Beobachte Dich selbst und lerne aus Deinen Fehlern. Sei kritisch und versuche immer, bessere Lösungen zu finden. Denkt daran: Die unsicheren Situationen – also diejenigen, in denen tatsächlich noch nichts passiert ist – sind die Grundlage der Pyramide.
Und wenn du Suspensions gemeistert hast, beginnt der entscheidende Teil: präsent und wachsam zu bleiben und Dich Tag für Tag zu verbessern.
Für mehr Sicherheit und Routine bei der Handhabung der Hängeseile bieten wir einen Tagesworkshop an: Suspensionsseile und Abschlüsse am Bambus: Effektivität, Sicherheit und Ästhetik am 13. Januar 2019 @Studio6x6.