Die Macht der Hingabe. Gedanken zu Semenawa aus der Bottom-Perspektive.

Mein Partner und ich haben uns einer sehr besonderen Form von Bondage verschrieben, dem Semenawa. Wörtlich bedeutet das „Qual“, „Folter“ oder „quälendes Seil“ bzw. „folterndes Seil“. Im Folgenden gehe ich näher darauf ein, was es im Kontext unseres erotischen Spiels bedeutet, nicht etwa beim Foltern von Gefangenen …

Definitionsgemäß hat „Qual“ etwas mit einer intensiven Erfahrung zu tun. Unser Lehrer Riccardo Wildties sagt dazu:

„Qual beginnt da, wo man die Schwelle dessen übertritt, ‚was genug ist’. Qual fängt in dem Moment an, in dem eine gewöhnliche Bondage-Session aufhören würde. Semenawa bedeutet, jemandem ‚mehr als genug’ zu geben.“ 

Also setzt Semenawa Intensität voraus. 

Sowohl emotional als auch körperlich. Das muss nicht unbedingt mit einer extremen Rückbeuge einhergehen. Vielmehr geht es darum, dich aus deiner persönlichen Komfortzone herauszuwagen, an deine Grenzen zu kommen, dich auf eine Gratwanderung einzulassen … Natürlich geht es dabei um deine persönlichen Grenzen. Dieser Raum ist immer individuell und einzigartig. Jeder von uns hat andere Grenzen. Doch nur eine wenn auch extreme Fesselung reicht noch nicht für Semenawa. Du kannst kopfüber an einem Fußgelenk aufgehängt sein, du kannst komplett nackt zur Schau gestellt sein und dennoch nicht in die Nähe von Semenawa kommen. Was fehlt?

Ich glaube, es geht dabei auch um die Intention

„Semenawa ist für die Seelen gemacht, die diese Traurigkeit in sich tragen, diese Zerrissenheit, diese Sehnsucht nach Hingabe – sowohl die Person, die fesselt, als auch die, die gefesselt wird. Es geht nicht um Sadismus und Masochismus, es geht um eine Reise, es geht darum, zusammen einen Berg zu besteigen, es geht um den Weg, nicht um das Ziel.“

Riccardo Wildties

Was möchten wir zusammen erschaffen? Es ist ein Tanz für zwei. Hier gibt es keinen „aktiven“ und keinen „passiven“ Partner. Wir nehmen zwei unterschiedliche Rollen ein. Der Mensch im Seil bietet seinem Partner ein Geschenk dar. Ein Geschenk zu machen ist eine Entscheidung, was per se selbstermächtigend ist (im Gegensatz zu einer demütigenden oder herabsetzenden Form von Bondage). Ein Geschenk ist etwas, das gewährt wird, nicht etwas, das eingefordert, erzwungen oder auferlegt werden kann. Die Person, die fesselt, hat ebenso eine Rolle inne. Sie muss dieses Geschenk annehmen. Sie muss ihren Begierden folgen. Das ist nicht einfach, denn in dieser Position ist man sehr verletzlich. 

„Du wurdest einmal verletzt“, gebe ich zu. „aber ich möchte, dass du darauf vertraust, dass es dein Strahlen ist, das mich inspiriert. In dir ist eine unglaubliche Schönheit und ich kann dabei helfen, sie zum Vorschein zu bringen.“

„Wie kannst du wissen, was ich möchte?“

„Ich weiß es nicht“, gebe ich zu, „aber ich weiß, dass in Wahrheit ich derjenige bin, der geführt wird. Es ist die Schönheit in dir, die mich führt. Wir sind beide gleichzeitig beides, Führender und Folgender. Deine innere Schönheit führt mich, meine Liebe zu deiner Schönheit führt dich.“

Richard Strozzi Heckler, „Holding the Center: Sanctuary in a Time of Confusion“ (Ins Deutsche übertragen von der Übersetzerin)

Hingabe

Hingabe ist eine Art, auf die Impulse zu reagieren, die mein Partner mir gibt. Mit einem flexiblen Widerstand oder besser einer Gegenwärtigkeit öffne ich mich gegenüber dieser Einwirkung, ich lasse sie in mich ein, ich lasse sie mich berühren, körperlich und emotional, ich erlaube ihr, mich zu transformieren … Und ich zeige meine Reaktionen, ich verstecke meine Emotionen nicht. Das ist das, was du teilst, genau darum geht es bei diesem Geschenk. 

Es ist immer deine Entscheidung, wie weit du gehen möchtest. Du erlaubst deinem Partner, in dem Raum zu tanzen, den du definierst. Es ist dein Körper, es sind deine Emotionen, es ist dein Geschenk, das du ihm gibst. Das ist sehr wichtig. (Lies in unserem Artikel über Konsens nach, wie du deine Grenzen findest, wenn du dich hingibst.) 

Dieser gemeinsame Tanz beginnt damit, dass du dich dem Willen deines Partners hingibst, aber er ist an diesem Punkt nicht zuende. Denn wir sind in der Lage, uns etwas hinzugeben, das über jeden Einzelnen hinausgeht. Durch beiderseitige Hingabe werden wir über unsere Grenzen hinweg getragen.*

*Natürlich nur, wenn du an diesen Punkt gehen willst. Meiner Meinung nach ist diese Art des Fesselns nicht für jeden gemacht. Das ist nicht böse gemeint. Es gibt andere Arten des Fesselns, die sehr erfüllend sein und Spaß machen können!

Dazu noch ein Zitat: 

„Wir begreifen, dass Macht nicht ein Ding ist oder etwas, das man selbst anhäufen kann oder das dadurch entsteht, dass uns jemand gehorcht. Sondern es ist die Fähigkeit, sich etwas hinzugeben, das größer ist als jeder Einzelne. Macht ist eine Ressource, an der wir teilhaben können, zu der einer den anderen führen kann. Psychologie kann diese Macht definieren; Technik und Geschick kann uns ihr näherbringen; aber erst wenn wir es immer wieder anwenden und uns dem mit Geist und Herz widmen, kommen wir zu der Erkenntnis: Es ist das Hingeben selbst, das Macht gibt.“ 

Richard Strozzi Heckler, „Holding the Center: Sanctuary in a Time of Confusion“ (Ins Deutsche übertragen von der Übersetzerin)

Was es nicht ist

Nach und nach gibst du dich dem hin, was kommt, was dir durch das Medium des Seils gegeben wird. Das kann Liebe sein und du ergibst dich ganz dem Gefühl, geliebt zu werden. Das kann auch Schmerz sein. Beim Semenawa nimmst du Schmerz mit derselben Würde an. Schmerz ist nicht deine Intention. Schmerz ist nie eine Bestrafung. Es gehört ganz einfach zu der Erfahrung dazu, deine Komfortzone zu verlassen. 

Deshalb sind meiner Meinung nach beide Herangehensweisen sinnlos: sowohl den Schmerz zu suchen, als auch ihn zu vermeiden, indem man eine geeignete „Technik“ findet. Ja, da ist Schmerz, und nein, es ist nicht die Hauptintention. Tatsächlich bringt dich eine zarte Fesselung sehr viel schneller an deine Grenzen, wenn du Schmerz erwartest. 

**Natürlich meine ich damit nicht „schlechten“ Schmerz, zum Beispiel von einem verdrehten Knoten oder wenn das Seil auf einen Nerv drückt. Deinen Körper zu kennen und kommunizieren zu können ist eine Grundvoraussetzung, um dich zu entspannen und ins Spiel kommen zu können, unabhängig vom Fesselstil. 

Atmen

Um dich hinzugeben, musst du ein starkes Zentrum haben – eine widerstandsfähige, flexible Mitte –, sodass du deine äußere Mauer öffnen und dem Seil erlauben kannst, an dich „heranzukommen“. Atmen hilft dir dabei, dich mit dem gegenwärtigen Moment zu verbinden. Dich selbst in der Erfahrung zu verlieren, in einer Stressreaktion deine Wahrnehmung auszuschalten, ist keine Hingabe. 

Red Sabbath, ein unglaublich tolles Semenawa-Model, das ich sehr bewundere, sagt dazu:

„Ich atme langsam und tief, wenn möglich, langsam und verlängert, wenn meine Atmenkapazität von der Fesselung eingeschränkt ist. Atmen hat eine sofortige natürliche Wirkung auf die Schmerzwahrnehmung, es hilft mir zu entspannen, loszulassen und negative Gefühle loszuwerden.“

Als Fazit …

… möchte ich noch sagen, dass es für mich persönlich einen Unterschied gibt zwischen sich hingeben und sich unterwerfen. Zumindest für mich mit Russisch als Muttersprache. Ich habe es noch nicht komplett erfassen können, aber es geht in diese Richtung: 

Ich unterwerfe mich militärischer Disziplin. Hier geht es um Hierarchie.

Ich gebe mich der Strömung des Flusses hin. Ich gebe mich deinen liebenden Armen hin. Es ist meine Entscheidung.

Aber gut, das ist Semantik. Was ich meine: Es ist nicht „Macht über“, sondern „Macht mit“, die dich weiterbringt als jemals zuvor. 

Deutsche Übersetzung: MissMila Cu