Immer wieder argumentiere ich über das Thema „Qualität“ oder noch vager: „Ästhetik“ in Kinbaku. Warum ist diese Bondage schöner als eine andere? Warum sieht dieses Foto gut aus und das andere nicht? Was ist eine gute Session? Und warum denke ich, dass dieser „Lehrer“ gut und ein anderer schlecht ist? Einige Leute behaupten, nur die individuelle Erfahrung zählt, da es keine objektiven Qualitätskriterien gibt. Und kann schon eine individuelle Erfahrung beurteilen?
Ich schätze, dieses Argument ist so alt wie die Kunst, und vielleicht hatten unsere Vorfahren bereits vor zehntausenden von Jahren ihren Tratsch über die erstaunliche (oder auch nicht!) Darstellung der Jagtbeute an den Wänden ihrer Höhlen.
Ich möchte wirklich, dass jeder Mensche die wunderbarsten individuellen Erfahrungen im Bondage macht. Ich glaube aber auch, dass sie in dem Moment, in dem sie der Öffentlichkeit (noch mehr in „sozialen“ Medien) als Kunst präsentiert werden, auch den öffentlichen Diskurs über ihre Qualität initiieren. Und diesen Diskurs zu haben, ist normal und geradezu notwendig für die Entwicklung der Künste. Nicht jeder individuelle Ausdruck kann die Schwelle in die Kunst überschreiten.
Wenn wir diese Diskussion vermeiden oder unterdrücken, werden wir in einer Flut von Mittelmäßigkeit versinken. Wenn wir komplett ignorieren, dass es Qualitätskriterien gibt, wird der Wettbewerb um Aufmerksamkeit von denen gewonnen, die wissen, wie man das System besser manipuliert… zum Beispiel das System der sozialen Medien.
Qualität ist sehr schwer zu definieren, aber jeder sieht, ob sie da ist!
Werfen wir also einen Blick auf diese so schwer zu erfassende „Qualität“. Dies ist die Kalligraphie des Kanji „DO“ – Weg, wie er in der japanischen Kultur für den Weg der praktischen und spirituellen Entwicklung verwendet wird, wie im Aikido oder Chado. Die linke ist von Kazuaki (KAZ) Tanahashi, einem international bekannten Kalligraphen, gezeichnet. Sie grüßte mich viele Jahre in meinem Dojo in Frankfurt, auf dem Weg vom Umkleideraum zur Matte, auf der ich Aikido praktiziert. Die andere wurde nach etwa 20 Stunden Training von einem begeisterten Amateur gezeichnet. Ich weiß nicht, wie sich Kaz fühlt, wenn er zeichnet, aber definitiv war ich super glücklich, endlich die richtige Strichreihenfolge der für mich so wichtigen Kalligraphie hinzubekommen und von meiner Lehrerin Anerkennung und Lob zu bekommen. Ist es Kunst? Das glaube ich nicht! Ist es eine gute Kalligraphie? Auch das nicht! Ich schätze, jeder kann den Unterschied sehen. Es ist genau das: ein Unterschied in der Qualität. Es gilt, mehr Subtilität hinzuzufügen. Und es gibt viel mehr zu lernen, zu verstehen, zu wissen, viel mehr Gefühl für Druck, Schwung, Raum und Komposition zu entwickeln. Wenn ich danach streben würde, ein guter Kalligraphiekünstler zu werden, müsste ich viel mehr üben. Ich müsste die alten Meister studieren. Ich bräuchte Ratschläge von Lehrern und Mentoren. Das ist der Weg (sic!) in einer handwerklich orientierten Kunst.
Kann man diese Gedanken auf Kinbaku übertragen? Letztes Jahr hatten wir die einmalige Chance, insgesamt drei Shootings des Meisters der Kinbaku-Fotografie, Sugiura Norio, während eines wunderbaren Workshops über „Ästhetik von Kinbaku“ in Kopenhagen zu beobachten. Seine Bilder – direkt von der Kamera geladen, auf die Leinwand projiziert – hatten bereits einen magischen Glanz, ohne jegliche Nachbearbeitung. Die anderen fünf ausgewählten Fotografen haben gute Arbeit geleistet, ebenso wie alle Modelle, die Rigger und die Assistenten in fünf Teams. Trotzdem waren alle weit von der Magie des Meisters entfernt, obwohl jeder die gleichen Bedingungen hatte und Sugiura die gesamte Inszenierung kontrollierte und selbst beinahe noch die Auslöser selbst gedrückt hätte. Die Bilder – gemacht von renommierten europäischen Kinbaku-Fotografen wie Clover oder Amaury Grisel – waren gut, hatten aber nicht den gleichen magischen Glanz. Der Unterschied in der Qualität war für uns alle sichtbar. Es gab keinen Zweifel. Trotzdem konnte es auch Sugiura nicht erklären (wir haben gefragt!).
Ich möchte noch einen weiteren Teil der Geschichte erzählen. Es gab fünf Teams, die unter Sugiuras Anleitung an ihren eigenen Sets arbeiteten. Wir waren 30 Leute in einem kleinen Raum, mit drei Scheinwerfern. Es war heiß und feucht. Wir alle schwitzten. Vor allem waren natürlich die Rigger unter Druck, die künstlerische Vision des Meisters in sichere und effektive Bondage umzusetzen, unter immensen Zeitdruck! Ich war einer von ihnen – schwitzend, zitternd. Vier von uns schwitzten, zitterten… WykD Dave schwitzte auch, aber er schaffte es, ein kompliziertes Muster an Natashas Beinen zu fesseln, ohne auch nur einmal die Haut einzuklemmen. Oft gelingt es mir das unter viel besseren Bedingungen nicht. Würde ich Dave’s Fingerarbeit und Seilfluss eine höhere Qualität als meiner zugestehen? Ja, zum Teufel, ja!
Und hurra – wir haben sogar ein objektives Kriterium. Ingenieure, wie mein Freund Andrea Kurogami, könnten sich sogar versucht fühlen, die dimensionslose Kennzahl WD = Anzahl der Quetschungen geteilt durch die Anzahl der durchgeführten Passagen zu erstellen. Riccardo Wildties lehrt, dass eine gute Bondage technisch exzellent und ästhetisch ansprechend sowie Ausdruck der Persönlichkeit sein muss. Lassen wir für einen Moment Schönheit und Persönlichkeit beiseite: sicherlich können wir Kriterien definieren, um technisch exzellente Bondage von schlechter zu unterscheiden. Kriterien sind z.B:
- Wie wird Seilfluss und Zugspannung beherrscht?
- Können die Fesslungen auf verschiedene Körpertypen angepasst werden?
- Wie schnell kann eine Fesslung bei gleichbleibender Qualität ausgeführt werden?
- Wird „Verschwendung“ z.B. durch unnötige Friktion und Passagen vermieden?
Das sind jetzt natürlich keine mathematischen, wissenschaftlichen Kriterien. Was ist letztendlich eine „gute“ Zugspannung? Aber ich möchte hier argumentieren, dass es, wenn auch nicht völlig wissenschaftlich, auch nicht willkürlich ist. Mehr noch, das Gleiche hat nicht in jeder Situation die gleiche Qualität. Die Seilspannung könnte sehr niedrig sein, weil der japanische Meister es verrutschen lassen will, weil genau das in seinen Augen „schöner“ ist. Im Gegensatz dazu bleibt eine schlampige Fesselung nur eine schlampige Fesselung. Im ersten Fall ist es intentional.
Qualität ist nie ein Zufall; sie ist immer das Ergebnis hoher Absichten, aufrichtiger Bemühungen, intelligenter Führung und geschickter Ausführung; sie stellt die kluge Auswahl aus vielen Alternativen dar.
William A. Foster
Picasso konnte perfekt realistische Bilder malen. Er hat sich dafür entschieden, dass er das für den meisten Teil seiner Karriere nicht will. Nur auf ein Blatt Papier zu kritzeln, ist nicht die gleiche Qualität und keine Kunst. Das Gleiche gilt für Bondage. Es gibt einen Unterschied, ob man nicht weiß, was man mit dem Nawa-jiri machen soll und aus dieser Inkompetenz heraus einfach das Seil“Spaghetti“ hängen lässt oder ob man bewusst und kunstvoll einen chaotischen Stil kreiert. Um es eine „Präferenz“ zu nennen, muss man in der Lage sein, das Gegenteil zu tun. Ansonsten ist es eigentlich nur „Inkompetenz“.
Wenn es um Schönheit oder noch delikater: die Persönlichkeit geht wird es natürlich immer unschärfer. Unsere Kriterien z.B. für Schönheit sind verschieden zwischen den Kulturen und können sich auch im Laufe der Jahrhunderte ändern – ein wenig. Aber ich schätze, die meisten von uns empfinden immer noch die ästhetischen Qualitätskriterien, die die Architekten der griechischen Tempel angewandt haben, spontan als passend, genauso wie wir immer noch die ästhetischen Visionen von DaVinci, Michelangelo, Botticelli und anderen Künstlern bewundern. Auch wenn wir es nicht objektiv definieren können, können die meisten Menschen einen Geschmack und damit ein Urteilsvermögen für den künstlerischen Ausdruck entwickeln.
Im Segment der handwerklichen Kunst (der einzigen, über die ich hier spreche) tragen die folgenden Elemente meiner Meinung nach zu einer allgemeinen, wahrgenommenen Ausdrucksqualität bei:
- Subtilität und Tiefe
- Reduktion auf das Wesentliche
- Ausdrucksstärke
- Harmonie
- Persönlichkeit des Künstlers
Das ist es, was die Bilder von Sugiura von den anderen fünf Fotografen unterscheidet, das ist es, was Kaz zu einem großartigen Kalligrafen macht und mich zu einem Typen, der gerade einmal ein paar Grundlagen beherrscht.
Für mich persönlich ist das Ziehen der Karte der „persönlichen Präferenz“ und die Ablehnung von Qualitätskriterien ein Zeichen mangelnder Demut. Das ist der einfache Ausweg. Es ist auch ein Zeichen von Ungeduld. Es gilt für Kunst und Bondage gleichermaßen. Alle großen Künstler strebten nach Verfeinerung, entwickelten sich weiter. Hokusai drückte dieses demütige Streben mit diesen Worten aus:
Seit meinem sechsten Lebensjahr habe ich die Angewohnheit, Formen von Objekten zu skizzieren. Obwohl ich seit etwa fünfzig Jahren oft meine Bildwerke veröffentlicht habe, ist vor dem siebzigsten Jahr keines würdig.
Hokusai
Das gilt übrigens auch für große Kampfkünstler, große Wissenschaftler, große Musiker, große Tänzer oder sogar für große spirituelle Lehrer. Um zu leben, als Künstler und Mensch, muss man neugierig bleiben, sein „Wissen“ hinterfragen und weiter üben.
Also, wenn ich sage: „Das ist eine schlechte Bondage“, meine ich nicht: „Du bist ein wertloser Idiot“. Ich meine nur: „Vielleicht musst Du mehr üben“. Das ist eine andere Botschaft! Wenn du auf dem Weg (DO) bleibst, dann wird deine Fesselung besser, von höherer Qualität – und vielleicht sogar: Kunst.